• addBericht Nr. 4

    Ein letztes Mal schreibe ich nun über meine Erlebnisse in Paraguay, meiner temporären zweiten Heimat. Jetzt jedoch wieder zurück in Deutschland, ist die Perspektive eine andere.

     


    Zusammenfassung des Jahres 

    Wie fasse ich ein Jahr zusammen, was mich so sehr bewegt hat, was so viele Eindrücke mit sich brachte, die sich nicht beschreiben lassen? Vielleicht lässt sich das Jahr mit einem Film oder Buch vergleichen, das einen noch Tage lang beschäftigt. Nur das es jetzt nicht nur Tage sind, sondern das vergangene Jahr nachhaltig Einfluss auf mein Leben hat und haben wird. Es war ein Jahr der Herausforderung, des Kennenlernens neuer Menschen und Kulturen, aber auch der Abschiede. Ein Jahr des Hinterfragens, meiner selbst, „meiner“ Kultur, meiner Art zu Denken und zu handeln. Ein Jahr der vielen Möglichkeiten, aber auch der Schwierigkeiten. Es fühlt sich rückblickend nicht an wie 12 Monate, mehr wie drei Monate, in denen ich genug Dinge für drei Jahre gesehen und erlebt habe. Ich denke, unbeschreiblich trifft es am besten, man muss es erlebt haben, um wahrlich zu verstehen was es heißt ein Jahr einen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst zu leisten.

     

    Höhepunkte und Tiefpunkte des Jahres

    Höhepunkte des Jahres waren sicherlich Momente, in denen mir Bewusst wurde, wie erfolgreich ich mit Spanisch bin. Es ist ein tolles Gefühl, sich nach Monaten des Lernens und Kopierens, entspannt verständigen zu können. Auch Momente mit den Kindern, manche Momente im Alltag würde ich als Erfolge und schöne Momente unter Höhepunkte des Jahres zählen. Natürlich darf hier meine Reise nicht fehlen, eine so hohe Dichte an unglaublichen Orten, Menschen und Erfahrungen ist definitiv ein Highlight meines Jahres gewesen. Aber es gab auch Tiefpunkte in diesem Jahr, so zum Beispiel der Einbruch im November, ein Motivationstief nach einer Neubesetzung vieler unserer Mitarbeiter, was aus Kommunikationsschwierigkeiten herrührte. Die schönen Momente überwiegen allerdings immens. Das Jahr hatte sicherlich auch seine Tiefen, wird aber durch seine absolut überwiegenden erfreulichen Situationen und Gefühle geprägt.

     

    Was habe ich Besonderes gelernt?

    Ich denke das Jahr hat viele meiner Kernkompetenzen gefordert und gefördert aber mit immer neuen unbekannten oder bekannten Herausforderungen meinen ganzen Körper und Geist auf die Probe gestellt. Banale Dinge wie das WG-Leben, den Haushalt alleine zu schmeißen, die Freiheit und die Möglichkeiten, oder auch nur die Planung meiner Arbeitswoche waren mir bis dato in dieser Form unbekannt und durch sie habe ich sehr viel gelernt und viel Lebenserfahrung gesammelt. Auch wenn diese Dinge mir nicht sonderlich schwergefallen sind. Ein anderer Bereich, den ich weiter ausbauen konnte, war die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Hier habe ich durch die vielen Jahre als Jugendgruppenleiter in der Ev. Jugend und anderen Freizeiten und Seminaren schon viel Vorwissen gehabt, dennoch lernt man nie aus. Besonders der Umgang mit Kindern aus schwierigen Verhältnissen oder mit Traumata erforderte pädagogisches Fingerspitzengefühl und erforderte ein konzeptionelles Umdenken an manchen Stellen in der Arbeit mit ihnen. Ich habe gelernt noch viel stärker zu reflektieren. Mich selbst, meine Taten, meine Worte. Es ist, wie bereits im letzten Bericht beschrieben, auch eine Phase der Selbstfindung gewesen, die mich persönlich an vielen Punkten weitergebracht hat. Niemand kann ohne Vorurteile leben, das ist etwas, was mir schmerzlich bewusst geworden ist. Egal für wie tolerant und offen ich mich halte, tief in mir sind diese unterbewussten Vorurteile, auch ich wurde in einer deutschen, „überlegenen“ Gesellschaft sozialisiert worden und kann das nicht zu 100% ablegen oder vergessen. Ich kann sie nun besser lokalisieren und unterdrücken, aber ihre Entdeckung war ein Moment der Unsicherheit. Doch auch daraus habe ich Dinge gelernt.  Und nicht zu vergessen, Spanisch, ich habe „mal eben so“ Spanisch gelernt.

     


    Was nehme ich entwicklungspolitisch und interkulturell, politisch mit für die Zukunft?

    Ich nehme sehr viel mit, einerseits viele neue Denkweisen und Perspektiven von Menschen aus dem globalen Süden, andererseits aber auch viele Ideen und viel Wut auf bestehende, ausbeutende Systeme. Nach einem Jahr in Paraguay hat sich mein Interesse für Politik noch weiter verstärkt. Besonders globale Zusammenhänge und Fragestellungen rückten in mein Blickfeld. Ich frage mich: Wie? Wie kann es sein, dass wir nichts dagegen unternehmen, wenn in unserem Namen, für unseren Wohlstand, anderswo auf dieser Welt Menschen leiden. Wie ist es möglich, dass wir reinen Gewissens weiterhin diese Politik unterstützen können. Wir sind Exportweltmeister und feiern uns dafür, blind für die Folgen, die unsere subventionierten Produkte an anderer Stelle anrichten. Ganz aktuell frage ich mich immer wieder, wie wir mit so viel Ignoranz der Klimakatastrophe im Allgemeinen gegenüberstehen können, oder den Bränden im Amazonasgebiet, oder den unzähligen Toten, die unsere Art zu leben weltweit fordert. Wir können uns dank unserer privilegierten Umstände noch Zeit erkaufen. Werden die Sommer extremer und der Meeresspiegel steigt? Dann bauen wir eben höhere Deiche und regeln die Klimaanlage runter. Das können aber viele nicht. Die Alternative? Ertrinken, da die Flüsse über die Ufer steigen. Verhungern, da die Dürre die letzte Ernte vernichtet hat. Wie können wir mit diesem Wissen einfach weiter machen, wo bleibt der Widerstand? Ich könnte noch Stunden so weitermachen. Es ist eine Farce, was wir auf und mit diesem Planeten und seinen Bewohnern jeglicher Art anstellen. Deshalb nehme ich an erster Stelle Wut, Trauer und Motivation mit, um diesem System zu trotzen und es zu verändern. Für uns alle. Gleichermaßen. Für EINE Welt.

     

    Was war eine besondere Situation/ Moment oder Momente im Jahr?

    Eine besondere Situation in meinem Jahr stellt auf jeden Fall das Ankommen in Asunción, nach 5 Wochen Reise und Seminar, dar. Es war ein Gefühl des „Nach-Hause-Kommens“, in einem Land 11.000 Kilometer weit entfernt von meiner Familie. Die Luft, die Hitze, die Sprache, die Menschen und auch die Musik warten zu meinem Zuhause geworden und erzeugten ein Gefühl der Entspannung und der Ruhe. In diesen sechs Monaten war mir eine Stadt, eine Kultur ans Herz gewachsen, die ich vor zwei Jahren nicht einmal geografisch verorten konnte. Zu realisieren wie schnell ein Ort, ein Lebensinhalt zur „Heimat“ wird, und wie unsinnig dieser Begriff ist, war schön. Es sind die Menschen beim Feiern, beim Einkaufen, es ist die klebrige Luft bei 45°C, es  sind die bunten Busse, die fettigen, leckeren Empanadas, die Kinder im Projekt, unsere einfache Wohnung. Es ist kein Punkt auf einer Karte. Es ist nicht EINE Kultur, nicht EINE Sprache, EINE Art zu leben. Es ist ein stetiger Wandel. Heimat ist immer da, wo wir uns Zuhause fühlen. Und nach sechs Monaten dieses Gefühl tief in sich zu spüren war ein sehr bewegender Moment in diesem Jahr. Man ist nicht nur an einem Ort der Welt wirklich Zuhause.

     

    Was hat das Jahr für mich ausgemacht?

    Diversität, diese nicht enden wollende Vielfalt. Das Unbekannte, was erforscht werden wollte und wurde. Die Menschen, die kennergelernt wurden. Das Bewusstsein für ein größeres System an Menschen in dem wir Leben. Ein sich stetig erweiternder Horizont. Selbstzweifel aber auch Selbstfindung. Viele gesammelte Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich bis jetzt noch nicht alle verarbeiten konnte. Das Jahr wurde von so vielen, so verschiedenen Menschen geprägt und mit Leben gefüllt. Ich denke, jeder erlebt seinen Freiwilligendienst anders, doch egal welche Erfahrungen gemacht werden, gut oder schlecht, wir lernen. Wir entwickeln uns weiter. Niemand kann uns dieses Jahr mehr nehmen und ich kann sagen, es war eine sehr prägende Zeit, mit so vielen Möglichkeiten die auch jetzt noch erscheinen, und Türen, die sich auch nach Ablauf des Jahres nicht so schnell schließen werden.

     

    Ich kann jedem Menschen, der die Möglichkeit dazu hat einen solchen Freiwilligendienst zu leisten, raten sie zu nutzen und sein ganz persönliches Jahr in der Welt zu erleben, und das erlebte hier umzusetzen