• addBericht Nr. 4

    Zusammenfassung des Jahres

    Ich fand mein Auslandsjahr in der Provinzstadt Caranavi, Bolivien, äußerst spannend und bereichernd. In einem Mädcheninternat für ca. 20 Mädchen durfte ich mit einer Köchin, einer Mitfreiwilligen, der Leiterin des Internats und den Mädchen wohnen und meinen Alltag verbringen. Der Aufgabenbereich von uns Freiwilligen war die Betreuung der Hausaufgaben (Manchmal mit einer weiteren Angestellten) und die Begleitung und Betreuung der Mädchen. Durch die gemeinsame Wohnsituation übernahm ich auch zusätzliche Aufgaben, die ich laut Vertrag nicht übernehmen hätte müssen, oder nicht sicher ist, ob ich manche hätte übernehmen dürfen. Der Grund war persönliches Engagement oder kurzweiliger Personalmangel. Persönlich habe ich mir aber immer Zeit für einen Ausgleich genommen und war aufmerksam für mein persönliches Wohlbefinden. Zusätzlich war ich, durch die christliche Partnerorganisation, in der nächsten Großstadt, La Paz, in die kirchlichen Jugendgruppen integriert und konnte auch über diese Kontakte viel mehr in die bolivianische Kultur eintauchen.

     

    Höhepunkte und Tiefpunkte des Jahres

    Mein persönlicher Höhepunkt war immer wieder der Anschluss in der kirchlichen Jugend in La Paz, da ich dort persönlich bis zum Ende viele wichtige soziale Kontakte knüpfen konnte. Dadurch hatte ich einen bolivianischen Freundeskreis, was nicht nur persönlich guttut, sondern auch für Bolivianer und Deutsche eine Bereicherung ist. Die Höhepunkte im Internat waren Situationen, in denen sich Mädchen mir persönlich anvertrauten und mich gewollt in ihr Schulleben oder Privatleben einführten. Oder wenn die mit Lehrern besprochenen Arbeitsweisen und Ziele fruchteten.

     

    Zusätzlich wenn man eine gute Bindung aufbaut, so wie zu der Köchin und man persönlich nach Hause eingeladen wird, zeichnet das in der bolivianischen Kultur ein großes Maß an Vertrauen aus.

    Es gab deutlich mehr Hochpunkte als Tiefpunkte! Als solche kann ich nur 2 benennen. Einer war in der ersten Hälfte meines Dienstes, in der ich mit 2 Mädchen arbeitete, mit denen ich nicht, wegen zu wenig Fachwissen, umzugehen wusste. Der zweite Tiefpunkt war in der zweiten Hälfte meines Dienstes. Im Internat traten unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen von Arbeit, Erziehung, Arbeitszeit und Freizeitgestaltung, Kommunikation und Organisation auf. Der Tiefpunkt war die Phase, als intensive Meinungsverschiedenheiten und Überzeugungen zutage traten. Ich bin jedoch froh, dass trotzdem ein Weg gefunden wurde, gemeinsam zu arbeiten und trotz allem eine gute Zeit miteinander zu verbringen.

     

    Was habe ich besonderes gelernt? 

    In dem Jahr durfte ich viel lernen. Vorne weg das Sprechen von Spanisch und Mischungen mit Aymara. In der Arbeitsstelle habe ich viel über Erziehung und Anleitung von Jugendlichen gelernt: Schwerpunkte setzen, sich selber erklären, das Gleichgewicht von Belohnung und Konsequenzen, Kommunikation und das Vermitteln von Werten. Vor allem gesellschaftliche Werte sind in der bolivianischen Kultur sehr wichtig und werden klar benannt. Personen werden anhand dieser Werte gemessen und als gute oder schlechte Mitmenschen eingestuft. Dies ist besonders wichtig, da die Menschen und Familien in ländlichen Gegenden (wie meinem Projekt) unter anderem auf das Miteinander angewiesen sind. Auch in religiöser Hinsicht habe ich viel gelernt. Durch meinen engen Kontakt zur Kirche und nationalen Kirchenleitung habe ich neue inhaltliche Impulse und Einblicke in kirchliche Strukturen und Leitbilder erhalten. Besonders spannend sind hier die unterschiedlichen Leitbilder zwischen bolivianischen und deutschen Kirchen mit gleichem Namen. Ein Unterschied zwischen den Kulturen, der mir deutlich auffiel ist die Gewichtung in der Gesellschaft. Während in Deutschland eher der Plan, die Karriere und Bildung im Fokus stehen, sind in Bolivien Werte wie Gemeinschaft, Vertrauen und Harmonie wichtig. Das merkt man zum Beispiel daran, dass manchmal Menschen zu einem Gespräch dazu stießen und dann eine Stunde stehen und  schauen. Einfach um in Gesellschaft zu sein. Diese unterschiedlichen Gewichtungen und Funktionsweisen der Kulturen sind sehr beeindruckend. Sie regen zum Denken an, was einem selber als Grundeinstellung im Leben wichtig ist. Auch Einblicke in die bolivianische Küche, Musik- und Tanzkultur führen zu einer immer besseren Anpassung an die Kultur und auch das Projekt. Die unter anderem dadurch entstandene Herausforderung war das Finden der Balance zwischen Anpassung und eigenem Weg. Direkt auf meine Arbeit bezogen bedeutete das, in welchen Teilen möchte, kann und darf ich mich anpassen und in welchen Teilen nicht oder nur teilweise anpassen, auch dauerhaft für die Zeit nach meiner Rückkehr. Durch den ständigen Kontakt mit Bolivianern habe ich irgendwann gemerkt, wie unterschiedlich Lebenswelten sein können. Dabei haben das Umfeld, die Familie und die Politik einen großen Einfluss auf die Bevölkerung, vor allem auf die Kinder. Die Macht des Einflusses durch Mitmenschen hätte ich glaube ich nie so begreifen können, wenn ich nicht so lange und intensiv in einer ganz anderen Kultur gelebt hätte! Grundsätzlich wird man oft mit Themen konfrontiert, mit denen man in Deutschland nicht so häufig konfrontiert wird. So zum Beispiel Toleranz, Armut, Sicherheit, Arbeitseinstellung, Selbsthilfe, und vieles mehr. Daher war das Jahr eine große Bereicherung.

     


    Was nehme ich entwicklungspolitisch und interkulturell, politisch mit?

    Sehr spannend war für mich die politische Lage in Bolivien, da die Vorwahlen zur nächsten Präsidentenwahl anstanden. Zusätzlich kam es um den Jahreswechsel auch immer wieder zu Protesten und in Folge dessen Auseinandersetzungen zwischen ziviler Bevölkerung und der Polizei. Dabei ging es oft um grundpolitische Themen und Überzeugungen, was mir die Augen öffnete, welch junger Staat der „plurinationale Staat Bolivien“ ist. So durfte ich einen Einblick darin erhalten, was es bedeutet sich als Staat mit der Bevölkerung eine klare und gemeinsame Linie zu erarbeiten und zu erkämpfen. Interkulturell hingegen habe ich viel durch die bolivianischen Grundwerte gelernt. Gemeinschaft, das Dorf, die eigene Familie und Herkunft spielen eine große Rolle, vor allem auf dem Land, da man mehr von ihr abhängig ist, als in der westlichen Welt. Ich sehe darin Vor- und Nachteile. Aber vor allem merkt man, dass die Länder der Welt alle auf einem unterschiedlichen Entwicklungsstand sind und auch unterschiedliche Entwicklungsziele haben. Auf der entwicklungspolitischen Ebene setzte ich mich immer wieder mit dem Wiederspruch „internationale Einheit vs. Kultur und Traditionen?“ auseinander. Dies sind für mich sehr lange und komplexe Weltansichten, die ich immer wieder durch Anlass überdachte.

     

    Was war eine besondere Situation/ Moment oder Momente im Jahr?

    Dadurch, dass wir Freiwillige so gut in die Jugend der Kirche integriert waren, habe ich viele Gemeinden kennengelernt. Und ein Brauch ist, die Gäste mit einem Lied zu begrüßen, ihnen dabei zuzuwinken und sie dann herzlichst zu umarmen. Diese Momente waren für mich meine Lieblingsmomente, da ich so große Gastfreundschaft nicht erwartete. Auch ein sehr besonderer Moment war, als ich mit meiner Mitfreiwilligen gegen Ende der Sommerferien alleine im Internat war und die Straße nach La Paz durch Erdrutsche verschüttet war. Ich stand persönlich vor den Erdrutschen und habe die Auswirkungen des Klimawandels gesehen. Die dann folgende Gasknappheit, Wasserknappheit und Überschwemmungen waren sehr beeindruckend und manchmal beängstigend. Wir hatten jedoch guten Kontakt zu unserer Organisation und gute Informationsquellen vor Ort, sodass wir immer über die aktuelle Situation informiert waren. Ansonsten war im Internat der Kontakt mit den Eltern immer wieder eine große Freude und daraus ergaben sich auch besondere Momente der gegenseitigen Unterstützung und Wertschätzung. Die Gespräche mit den Eltern waren für mich immer eine Bereicherung, da sie einen anderen Blick auf meine Arbeit hatten und eine andere Lebenswahrnehmung.

     

    Was hat das Jahr für mich ausgemacht?

    Was das Jahr für mich im großen Stil ausgemacht hat ist, zu sehen welchen Einfluss Kultur und das Umfeld/die Familie auf die Entwicklung eines Menschen hat – sowohl äußerlich, als auch vom Charakter und seiner Meinungsbildung. Wird man in eine Kultur hineingeboren und wächst in ihr auf, ist sie der Maßstab, an dem alles andere gemessen wird. Zusätzlich können sich verschiedenste Meinungsbilder ebenfalls in verschiedenen Kulturkreisen festigen und werden somit auch zu einem Maßstab. Gelernt habe ich das stückweise. Zuerst einmal durch Unterschiede in den Kulturen, später durch Gespräche über Politik und Gesellschaft, dann über Erziehungsmethoden etc. Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Denkstrukturen. Jede Gesellschaft funktioniert unterschiedlich. Und in dieses völlig fremde und funktionierende System einzutauchen war meine Motivation. Nun war ich Teil des Systems und habe gelernt mich in einem neuen System zurecht zu finden. Diese Umstellung und das Erkunden des sozialen Systems hat das Jahr für mich so besonders gemacht.

     


    Was nehme ich für die Zukunft mit?

    Was ich persönlich sehr wichtig finde ist Aufklärung und aktiven Austausch. In Deutschland kann ich nun ganz anders an Diskussionen teilhaben und Informationen bereitstellen. Viele Menschen in Deutschland wissen wenig über Bolivien und ich kann ihnen Informationen an die Hand geben, schwierige Themen anstoßen und so versuchen die Welt ein Stück näher zu bringen. Was ich damit erreichen möchte ist Toleranz und Offenheit für jeglichen Kontakt mit dem Ausland. Ich möchte, dass man Menschen kennenlernt und sie versucht mit ihrem kulturellen und geschichtlichen Hintergrund zu verstehen, oder sie wenigstens anzunehmen. Das ist in der Frage der Flüchtlingspolitik sehr von Nöten. Zusätzlich habe ich die Auswirkungen des Klimawandels noch stärker gespürt, als jemals zuvor in Deutschland. Auch hier besteht nach wie vor Bedarf an Sensibilisierung für Umweltschutz- und Klimaschutz. Vor allem an Produkten, die in Deutschland verkauft werden, jedoch in anderen Ländern produziert. Zum Beispiel Obst, Kaffee. In der Debatte um den Schutz des Klimas habe ich viel dazugelernt und hoffe, egal wo, für das Thema sensibilisieren zu können.

     

    Ich habe gesehen, dass jedes Land besonders ist und mit Stärken und Schwächen ausgestattet ist. 

    Mir ist dabei nur wichtig, dass sich die Länder untereinander mit Toleranz und Respekt behandeln!!